Oft schon habe ich mich in den letzten Jahren ernsthaft gefragt, warum ausgerechnet ich, der ich durch Punk und Hardcore sozialisiert wurde, also schon von Natur aus stets regierungskritisch und ziemlich links ausgerichtet war, und mich auch immer so geäußert habe, warum also ausgerechnet ich mich immer öfter in der vermeintlichen Verlegenheit sehe, bundesdeutsches Regierungshandeln (ausgenommen das der FDP, möchte ich anmerken, aber das sind Details), wenn schon nicht in Schutz nehmen, dann aber doch gegen wütende, inhaltsleere oder faktenferne Anfeindungen argumentativ verteidigen zu müssen. Und dank einiger spannender Ausführungen des Soziologen Aladin El-Mafaalani, habe ich nun den Hauch einer Ahnung, einen schlüssigen Denkansatz woher dieses auf mich zunächst etwas verstörend wirkende Handeln rührt.

Wir bewegen uns zunehmend auf das zu, so El-Mafaalani, was man immer als die Utopie einer offenen Gesellschaft angesehen hat. Worum ging es stets bei Punk und Hardcore? Wir reden hier übrigens um den Kern der Szenen und nicht um die popkulturellen Auswüchse. Es ging um das Aufbrechen alter Gewohnheiten; um das Abrechnen mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die in die falsche Richtung zu Ungunsten des Menschen gelaufen sind; um das Vorantreiben progressiver Ideen und das Hintersichlassen des konservativen Stillstands.

Kurz: es ging um nicht weniger, als den Umbruch der Gesellschaft hin zum Gerechteren.

Und da stehen wir heute also. Alle relevanten Themen liegen nicht mehr länger versteckt unter der Ladentheke oder im Giftschrank, sondern offen auf dem Tisch.
Diskussionsfähig aufbereitet und in weiten Teilen der Gesellschaft sogar bereits akzeptiert und gelebt. Themen wie Frauenrechte, Sexismus, Homophobie, Veganismus, Klimakrise, Gendergerechtigkeit. Nichts davon ist perfekt umgesetzt. Aber alles wird offen diskutiert – und das in der ganzen Breite der Gesellschaft. In den 80ern war das absolut nicht so. Deshalb war es doch überhaupt erst wichtig, auf der Seite des Punks zu sein. Deshalb war es wichtig, wütende Songs zu schreiben und zu hören, die eben jenen offenen Diskurs zu sämtlichen Themen einforderten, die auch 40 Jahre nach der alles erstickenden Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in weiten Gesellschaftsteilen noch als Tabu galten.

Wir haben das Wissen, wir haben die Waffen, wir könnten alles zu einer besseren, gerechteren Welt in allen Belangen tun.
Und was machen wir?

Ein irrer, egomaner Diktator mit der beschränkten Denke von Vorgestern und Angst vor der Zukunft, macht – und das nicht als einziger – mit aller Brutalität deutlich, dass er auf alles scheißt, was nach ihm kommt.
Die, leider in Regierungsverantwortung geratenen, Angehörigen einer Kleinst- und Klientelpartei, schaffen es, jeden wirklichen Fortschritt zu verhindern, indem sie das Wort „Freiheit“ gleichermaßen mutwillig vergewaltigen, wie es die freiwillig desinformierten Hobbyaufreger, die sich paradoxerweise „Querdenker“ nennen, und nicht ganz unfreiwillig großflächig von bekannten Faschisten lenken lassen, seit Monaten tun – dabei ist es völlig egal, wogegen man gerade sein möchte.

Man möchte beinahe resignativ anerkennen, dass es da einen nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung zu geben scheint, der seinen konservativen Kleingeist auch 2022 (!) weiterhin mit Stolz pflegen möchte. Der noch nicht einmal auf Stillstand aus ist, sondern sich nach Rückschritt, den man am besten gnadenlos und mit Tempo 180 betreiben sollte, geradezu sehnt, und sich nicht zu blöd ist, das verlogene Narrativ von Atomkraftwerken als Erschaffer von „nachhaltiger Energie“ zu bedienen.

Und das tun sie aus der Motivation der Angst heraus.

Konservative Ängste sind mannigfaltig und äußerst komplex. Sie haben Angst davor, dass die eigenen, lieb gewonnenen Privilegien schrumpfen. Sie haben Angst davor, dass auffällt, dass die Grenzen, über die sie Ihr Dasein definieren, nichts Natürliches sind. Sie haben sogar Angst vorm langsam fahren oder nüchtern sein. Sie haben Angst vor Wissenschaft. Sie haben Angst vor Technologien, die zu verstehen, es eines gewissen Energieeinsatzes ihrerseits bedarf. Sie haben natürlich Angst vor Fremden und Fremdem. Sie haben Angst vor der Angst. Sie haben Angst vor Vegetariern. Sie haben Angst davor, dass jede/r selbstbestimmt so leben kann, wie er oder sie möchte (wo kommen wir denn da hin). Sie haben schlussendlich tatsächlich Angst – und jetzt wird es wirklich interessant – vor Demokratie und der damit einhergehenden wirklichen Freiheit. Ausgerechnet die zwei Begriffe, die sie alle so gerne auf ihre Fähnchen schreiben, sie aber entweder sehr, sehr falsch deuten, oder aber lediglich als windiges „Argument“ für Zwergenaufstände gegen „die da oben“ vor sich hertragen, versetzen sie geradezu in Panik und demzufolge in schäumende Rage.

Im Grunde sieht man seit Monaten immer jene Menschen auf sogenannten „Freiheits-Demos“ von AfD, „Querdenkern“ oder sonstigen wissenschaftsfernen Schreihälsen von ganz rechts unten, die genau das nicht wollen: frei und demokratisch leben. Erst sollte Merkel weg, dann die „Corona-Diktatur“ und nun, da da alles passé ist, aber man ja einfach dagegen sein muss (sagen einem ja auch die Faschisten der AfD), wendet man sich plötzlich Putin zu. Zum auf der Zunge zergehen lassen … diejenigen, die sich in der Bundesrepublik in einer Diktatur wähnen, wie die Blöden von „Ich will meine Freiheit zurück“ nachblöken, weil man es wagt, ihnen nahezulegen, hier und da aus Rücksicht eine Maske zu tragen, laufen einer zutiefst demokratiefeindlichen Radautruppe wie der AfD hinterher, und hofieren einen Steinzeit-Diktator wir Putin, unter dem sie schon längst ein Leben im Arbeitslager fristen würden. Kann man sich nicht ausdenken.

Und ja, in diesen wirren Zeiten des von Ultrarechten angestrebten, verbalen Paradigmenwechsels, ist es unausweichlich, auch mal der Punkrocker zu sein, der schon mal das Handeln der Regierung verteidigt. Wir befinden uns gerade am Anfang des Endkampfes um eine Zeitenwende. Ich meine nicht die Zeitenwende, von der Olaf Scholz im Bundestag sprach, sondern die Zeitenwende, die entscheidet, ob die Menschheit es schafft auf die nächste Existenzebene zu kommen. Und mit Existenz ist hier der pure Wortsinn gemeint. Putin ist einer der Auswüchse der traurigen Überbleibsels aus alter Zeit. Ein Mann der eiskalt über Leichenberge geht, wie schon viel zu viele vor ihm. Aber die neue Zeit ist nicht mehr seine Zeit. Sie entscheidet darüber, ob die Welt angesichts der Klimakatastrophe den allerletzten Strohhalm ergreifen kann, ob Menschen verstehen werden, dass sie eine Spezies sind, die auch hier – Geschlechter übergreifend – zusammenarbeiten muss. Eine Spezies, die sich auf die wichtigen Dinge fokussiert, ohne den niederen Beweggründen von Egoisten und Selbstdarstellern weiter auf den Leim zu gehen.

Es geht um den anfangs angesprochenen Umbruch der Gesellschaft.

Nur dass es dieses mal die globale Gesellschaft sein muss. Stand heute gibt es – trotz aller Erfolge, trotz des bereits Erreichten – diesbezüglich nur wenige Gründe im Kampf für diesen Umbruch nachlässig zu werden. Es gilt mehr denn je zusammenzustehen. Und ja, wenn es die Zeichen der Zeit erfordern, kann auch Punk und Hardcore mal die Haltung einer Regierung stützen, anstatt sie stürzen zu wollen, wenn es gegen den Zerfall der Gesellschaft, gegen Bestrebungen weg von der Demokratie und gegen den drohenden, nicht umkehrbaren Verlust des gesamten Lebensumfeldes geht.

„Decide- right now -which side you’re on, invest our freedom in failure by design“
(Boysetsfire – „Release The Dogs“)